
In einer Zeit, in der Digitalisierung und Nachhaltigkeit zu zentralen Themen der Stadtentwicklung avancieren, rückt ein kleines Dorf in Nordrhein-Westfalen ins internationale Rampenlicht: Etteln.
Mit weniger als 2.000 Einwohnern hat sich der Ortsteil der Gemeinde Borchen zur weltweit besten Smart City entwickelt und dabei Metropolen wie Hongkong hinter sich gelassen. Diese Erfolgsgeschichte zeigt eindrucksvoll, wie ländliche Regionen durch gemeinschaftliches Engagement und innovative Technologien zukunftsfähig werden können.
Was ist eine Smart City?
Eine Smart City ist mehr als nur eine „digitalisierte Stadt“. Es handelt sich um ein ganzheitliches Konzept zur urbanen Entwicklung, das moderne Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) nutzt, um Städte und Gemeinden effizienter, lebenswerter, nachhaltiger und resilienter zu gestalten. Dabei steht nicht nur die technologische Infrastruktur im Fokus, sondern auch die intelligente Nutzung von Daten, die Bürgerbeteiligung und ökologische Verantwortung.
Das Ziel ist es, auf Herausforderungen wie Klimawandel, Urbanisierung, demografischen Wandel und Ressourcenknappheit mit innovativen Lösungen zu reagieren – angepasst an die jeweilige Größe und Struktur einer Stadt oder Gemeinde.
Die Entwicklung einer Smart City lässt sich in mehrere Kernbereiche unterteilen:
1. Smart Energy – Intelligente Energieversorgung und -nutzung
Smart Energy bezeichnet ein intelligentes, digitales Energiemanagement in Städten, das auf Nachhaltigkeit, Effizienz und Eigenversorgung abzielt.
Wichtige Aspekte:
- Intelligente Stromnetze (Smart Grids): Vernetzte Stromnetze ermöglichen es, Energieflüsse in Echtzeit zu steuern, Verbrauchsspitzen auszugleichen und Strom effizient zu verteilen.
- Dezentrale Energieerzeugung: Bürger oder lokale Unternehmen produzieren über Photovoltaikanlagen, Windräder oder Biogasanlagen ihren eigenen Strom (Prosumer-Modell).
- Energiespeicherlösungen: Batteriespeicher (z. B. Quartiersspeicher) oder Wasserstofflösungen ermöglichen die Zwischenspeicherung überschüssiger Energie für Zeiten mit geringer Produktion.
- Energieverbrauchsmonitoring: Durch smarte Zähler (Smart Metering) und Apps können Haushalte ihren Energieverbrauch in Echtzeit beobachten und optimieren.
- Sektorkopplung: Strom, Wärme und Mobilität werden intelligent miteinander verknüpft, etwa indem Strom aus Photovoltaik-Anlagen zur Versorgung von Wärmepumpen oder Elektroautos genutzt wird.
Ein gutes Beispiel hierfür ist Etteln: Die Gemeinde produziert durch erneuerbare Energiequellen wie Windkraft und Biomasse mehr als das 30-fache ihres Eigenbedarfs und speichert die überschüssige Energie für spätere Nutzung.
2. Smart Mobility – Nachhaltige und vernetzte Mobilität
Smart Mobility beschreibt ein modernes, umweltfreundliches und vernetztes Verkehrssystem, das verschiedene Fortbewegungsmittel effizient miteinander kombiniert.
Zentrale Maßnahmen:
- Verkehrsflussoptimierung durch Sensorik und Echtzeitdaten: Ampelsteuerung, Parkplatzmanagement und Verkehrslenkung werden dynamisch angepasst.
- Multimodale Mobilitätsplattformen: Verschiedene Verkehrsmittel – Bus, Bahn, Fahrrad, Carsharing – werden über eine App buch- und kombinierbar.
- E-Mobilität: Förderung von Elektrofahrzeugen, Ausbau von Ladeinfrastruktur und Nutzung von E-Fahrzeugen im öffentlichen Nahverkehr oder als Bürgerautos.
- Shared Mobility: Carsharing, Bike-Sharing oder Ride-Pooling werden lokal organisiert und digital vermittelt.
- Autonomes Fahren (in Pilotprojekten): Erprobung von fahrerlosen Bussen oder Lieferrobotern für Nahverkehr und Logistik.
Auch hier ist Etteln Vorreiter: Mit dem „ettCar“ (ein E-Auto zur gemeinschaftlichen Nutzung) und einem E-Lastenrad bietet die Gemeinde nachhaltige Mobilitätslösungen für den ländlichen Raum – einfach per App buchbar und kostenlos nutzbar.
3. Smart Governance – Digitale Verwaltung und Bürgerbeteiligung
Smart Governance steht für eine moderne, transparente und bürgernahe Verwaltung, die digitale Technologien einsetzt, um Entscheidungsprozesse effizienter und partizipativer zu gestalten.
Wichtige Elemente:
- Digitale Verwaltung (E-Government): Anträge, Genehmigungen, Terminbuchungen oder Steuerbescheide können online abgewickelt werden – rund um die Uhr und ohne Behördengang.
- Open Data: Öffentliche Daten werden frei zugänglich gemacht, um Transparenz zu schaffen und Innovationen durch die Zivilgesellschaft zu fördern.
- Bürgerplattformen: Digitale Beteiligungsplattformen ermöglichen es, Anregungen, Beschwerden oder Projektideen einzureichen und mit anderen zu diskutieren.
- Krisenkommunikation: Behörden informieren Bürger in Echtzeit über Wetterwarnungen, Notlagen oder Verkehrsbehinderungen – z. B. via Push-Nachrichten.
- Kollaborative Entscheidungsfindung: Projekte werden in Co-Creation-Verfahren gemeinsam mit Bürgern, Wirtschaft und Wissenschaft entwickelt.
Etteln setzt diese Prinzipien konsequent um: Mit der Gründung der Genossenschaft „Etteln Digital“ haben Bürgerinnen und Bürger direkt Einfluss auf die digitale Zukunft ihres Dorfes. Die Dorf-App sowie regelmäßige Versammlungen und Workshops ermöglichen echte Mitbestimmung.
4. Smart Living – Intelligentes und lebensnahes Wohnen
Smart Living betrifft all jene digitalen Anwendungen, die den Alltag komfortabler, sicherer und gesünder machen – sei es im privaten Haushalt oder im öffentlichen Raum.
Typische Anwendungsfelder:
- Smart Homes: Vernetzte Haushaltsgeräte, Sprachassistenten, intelligente Heizungs- und Lichtsteuerungen erhöhen Komfort und Energieeffizienz.
- AAL (Ambient Assisted Living): Technologien unterstützen ältere Menschen dabei, möglichst lange selbstbestimmt zu Hause zu leben, etwa durch Sturzsensoren oder Notrufsysteme.
- Digitale Gesundheitslösungen: Telemedizin, Gesundheitsapps oder digitale Patientenakten verbessern die medizinische Versorgung – auch in ländlichen Regionen.
- Sicherheitssysteme: Kameras, Bewegungsmelder oder vernetzte Alarmsysteme erhöhen den Schutz von privaten und öffentlichen Einrichtungen.
- Bildung und Kultur: Digitale Klassenzimmer, Online-Lernplattformen, virtuelle Museen oder Kulturarchive machen Wissen und Kultur für alle zugänglich.
Etteln zeigt, wie vielseitig Smart Living sein kann: Die Gemeinde nutzt unter anderem digitale Info-Tafeln, Sensorik zur Müllüberwachung oder eine Umweltmessstation. Zudem werden digitale Schulungen angeboten, damit auch ältere Menschen problemlos an der digitalen Gesellschaft teilhaben können.
Smart Cities sind mehr als nur Technologie
Eine echte Smart City vereint all diese Bereiche zu einem intelligenten Ökosystem. Dabei geht es nicht nur um Technik – sondern vor allem um die soziale Innovation, Teilhabemöglichkeiten und die Vision einer nachhaltigen, lebenswerten Zukunft. Der Mensch steht im Mittelpunkt, nicht die Maschine.
Und Etteln zeigt, dass es keine Millionenstadt braucht, um diesen Wandel erfolgreich zu gestalten – es braucht nur Gemeinschaftssinn, Vision und Tatkraft.
Etteln: Vom Dorf zur weltbesten Smart City
Im Oktober 2024 wurde Etteln vom Institute of Electrical and Electronics Engineers (IEEE) auf der Internationalen Smart City Konferenz in Pattaya, Thailand, als beste Smart City weltweit ausgezeichnet – noch vor Städten wie Hongkong. Diese Anerkennung verdankt das Dorf nicht nur seiner fortschrittlichen Technologie, sondern vor allem dem außergewöhnlichen Engagement seiner Bürger.
Digitale Infrastruktur: Glasfaser bis zur letzten Milchkanne
Ein entscheidender Schritt in Ettelns digitaler Transformation war der eigenständige Ausbau der Glasfaserinfrastruktur. Über 60 Freiwillige verlegten rund 30 Kilometer Glasfaserleitungen, um jedem Haushalt Zugang zu schnellem Internet zu verschaffen. Dieses Engagement zeigt eindrucksvoll, wie stark Gemeinschaftsarbeit die Entwicklung eines Dorfes beeinflussen kann. Zusätzlich wurde ein flächendeckendes LoRaWAN-Funknetz installiert, das die Grundlage für zahlreiche IoT-Anwendungen bildet.
Digitale Anwendungen im Alltag
Etteln hat eine Vielzahl digitaler Lösungen implementiert, die den Alltag der Bewohner erleichtern:
- Dorf-App: Bietet Funktionen wie Mitfahrgelegenheiten, lokale Kleinanzeigen und Nachbarschaftshilfe.
- Digitale Informationstafeln: Touchscreens im Dorfzentrum informieren über aktuelle Ereignisse und Angebote.
- Überwachungssysteme: Sensoren überwachen beispielsweise die Befüllung von Altkleidercontainern und melden, wenn sie geleert werden müssen.
- Umweltdaten-Messstation: Erfasst Echtzeitdaten zu Luftqualität und anderen Umweltparametern, um die Lebensqualität zu verbessern.
Digitaler Dorfzwilling: Planung und Prävention
Ein besonders ambitioniertes Projekt ist der „Digitale Dorfzwilling“. Mithilfe von Drohnen und Sensoren wurde ein digitales 3D-Modell des Dorfes erstellt. Dieser Zwilling ermöglicht:
- Hochwasserprävention: Durch die Analyse von Regenwasserflüssen können Überschwemmungen frühzeitig erkannt und entsprechende Maßnahmen ergriffen werden.
- Energieeinsparungen: Straßenbeleuchtung und andere Systeme werden zentral und bedarfsgerecht gesteuert.
- Stadtplanung: Neue Baugebiete können unter Berücksichtigung von Umweltfaktoren optimal geplant werden.
Nachhaltige Mobilität und Energieversorgung
Zur Förderung nachhaltiger Mobilität stehen den Bewohnern ein Elektro-Dorfauto („ettCar“) und ein Elektro-Lastenrad zur Verfügung, die kostenlos gebucht werden können. Diese Initiative reduziert den CO₂-Ausstoß und stärkt die Gemeinschaft. In puncto Energieversorgung produziert Etteln durch einen Mix aus Wind, Sonne und Biomasse das 34-fache seines eigenen Energiebedarfs. Überschüssige Energie wird in Batterien gespeichert und ins Netz eingespeist, wenn die Sonne nicht scheint.
Erfolgsfaktoren: Gemeinschaft und Engagement
Der Schlüssel zu Ettelns Erfolg liegt im starken Gemeinschaftssinn und dem Engagement der Bürger. Initiativen wie die Gründung der Genossenschaft „Etteln Digital eG“ ermöglichen es den Einwohnern, aktiv in die Digitalisierung ihres Dorfes zu investieren und mitzubestimmen. Digitalkurse und Schulungen sorgen dafür, dass alle Generationen von den neuen Technologien profitieren können.
Herausforderungen und kritische Betrachtung
Trotz aller Erfolge stehen Smart Cities wie Etteln vor Herausforderungen:
- Datenschutz und Sicherheit: Die Sammlung und Verarbeitung großer Datenmengen erfordert robuste Sicherheitsmaßnahmen und transparente Datenschutzrichtlinien.
- Soziale Inklusion: Es muss sichergestellt werden, dass alle Bevölkerungsgruppen Zugang zu digitalen Angeboten haben und nicht abgehängt werden.
- Technologieabhängigkeit: Eine übermäßige Abhängigkeit von Technologie kann Risiken bergen, insbesondere bei Systemausfällen oder Cyberangriffen.
Fazit
Etteln demonstriert eindrucksvoll, wie auch kleine Gemeinden durch Engagement, Innovation und Zusammenarbeit zu Vorreitern in der digitalen Transformation werden können. Die Erfahrungen aus Etteln bieten wertvolle Erkenntnisse für andere Städte und Dörfer, die den Weg zur Smart City einschlagen möchten. Eine erfolgreiche Smart City erfordert nicht nur technologische Lösungen, sondern auch soziale Innovation, Bürgerbeteiligung und nachhaltige Strategien.