Hochwasserschutz in Deutschland – Sind wir gegen Überschwemmungen vorbereitet?

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Zwischen Erinnerung und Wiederholung

Die Flutkatastrophe im Ahrtal im Juli 2021 hat Deutschland tief erschüttert: 135 Menschen verloren ihr Leben, ganze Dörfer wurden zerstört, tausende verloren ihr Zuhause. Seitdem ist viel über besseren Hochwasserschutz gesprochen worden – doch konkrete Veränderungen bleiben in vielen Regionen aus. Angesichts des Klimawandels, der Starkregenereignisse und Überschwemmungen zunehmend wahrscheinlicher macht, stellt sich die Frage: Ist Deutschland heute besser vorbereitet als damals?

Aktueller Stand in Deutschland: Alarmierende Risikoanalysen

Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) veröffentlichte im Juli 2024 einen umfassenden Bericht zur Hochwasservorsorge in allen 16 Bundesländern. Die Ergebnisse sind alarmierend: Zehn Bundesländer sind laut DUH einem „hohen bis extrem hohen Risiko“ ausgesetzt, wenn ein sogenanntes „Jahrhunderthochwasser“ auftritt. Dazu zählen Bayern, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Niedersachsen, Brandenburg, Hessen, Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Schleswig-Holstein.

Besonders besorgniserregend ist die Lage in Bayern. Laut DUH befinden sich dort über 65.000 Wohnadressen in Überschwemmungsgebieten. Das entspricht mehr als 4 % der Landesfläche. Auch Nordrhein-Westfalen ist stark gefährdet: 6,8 % des Landes sind potenzielle Hochwassergebiete – mit über 28.000 betroffenen Wohnadressen. „Wenn heute ein ähnliches Ereignis wie im Ahrtal eintritt, sind weite Teile Bayerns oder NRWs ähnlich verwundbar“, warnt Sascha Müller-Kraenner, Bundesgeschäftsführer der DUH.

Schwächen des aktuellen Hochwasserschutzes: Geld, das nicht fließt

Ein zentrales Problem ist nicht der Mangel an Mitteln – sondern ihre mangelhafte Verwendung. Seit 2017 stellt der Bund jährlich rund 100 Millionen Euro für Hochwasserschutzmaßnahmen zur Verfügung. Doch viele Länder rufen das Geld gar nicht erst ab. Nach Angaben des Bundesumweltministeriums wurden 2023 lediglich rund 60 Millionen Euro bundesweit genutzt – 40 Millionen blieben ungenutzt. Besonders drastisch ist die Situation in Nordrhein-Westfalen: Dort wurden laut Welt nur 1,8 Millionen Euro ausgegeben, obwohl das Land zu den am stärksten gefährdeten Regionen zählt.

Die Gründe dafür sind vielfältig. In den zuständigen Landesministerien fehlen oft Personal, Planungskapazitäten und politische Prioritätensetzung. „Die Mittel sind da, aber die Länder sind nicht vorbereitet, um sie strukturiert einzusetzen“, kritisiert die Wasserbauingenieurin Prof. Dr. Claudia Pahl-Wostl von der Universität Osnabrück. „Wir brauchen keine neuen Fördertöpfe, sondern endlich Strategien, wie wir die bestehenden Mittel zielgerichtet nutzen.“

Technik alleine reicht nicht – die Grenzen des klassischen Hochwasserschutzes

Traditionell setzt Deutschland beim Hochwasserschutz auf technische Großprojekte: Deiche, Rückhaltebecken, Überflutungskanäle. Zwar haben diese Instrumente ihren Nutzen bewiesen, sind jedoch teuer, wartungsintensiv und häufig nicht ausreichend dimensioniert, um Extremereignissen zu begegnen.

Der DUH-Bericht kritisiert, dass viele Bundesländer ihre Hochwasserschutzstrategien zu einseitig auf solche technischen Maßnahmen ausrichten. Diese seien nicht nur teuer, sondern oft auch ökologisch schädlich und reichten im Katastrophenfall nicht aus. „Die Vorstellung, man könne sich vollständig mit Mauern und Dämmen gegen Naturgewalten schützen, ist überholt“, so DUH-Experte . „Wir brauchen einen Paradigmenwechsel hin zur naturbasierten Vorsorge.“

Natürlicher Hochwasserschutz: Schwammstadt, Entsiegelung und Renaturierung

Der Begriff „Schwammstadt“ steht dabei für ein neues Leitbild in der Stadt- und Flächenplanung: Böden, Parks, Dächer und Verkehrsflächen sollen wieder in der Lage sein, Wasser aufzunehmen und zu speichern, statt es über versiegelte Flächen in die Kanalisation zu leiten. Städte wie Kopenhagen, Rotterdam oder Hamburg setzen bereits Elemente dieser Strategie um – mit messbarem Erfolg.

Ein Beispiel: In Hamburg wurde das neue Stadtquartier „Oberbillwerder“ von Anfang an als Schwammstadt konzipiert. 60 % der Fläche bleiben unversiegelt, mit Grünflächen, Mulden-Rigolen-Systemen und Versickerungsmulden. Das bedeutet: Regenwasser wird gespeichert, statt direkt abgeleitet – Hochwasserspitzen werden abgefedert.

Auch die Renaturierung von Flüssen spielt eine zentrale Rolle. Deiche können zurückverlegt, Auen wiederhergestellt werden – so entstehen natürliche Überflutungsflächen, die im Ernstfall Wassermassen aufnehmen. In Bayern wurden nach der Donau-Flut 2002 über 420 Kilometer Deiche saniert und rund 760 Kilometer Fließgewässer naturnah umgestaltet. Doch der Rückbau von Siedlungsflächen in Überschwemmungsgebieten stößt häufig auf Widerstand – von privaten Eigentümerinnen und Eigentümern ebenso wie von Kommunen.

Juristische und politische Hindernisse: Wenn Eigentum Hochwasserschutz verhindert

Der Rückbau bestehender Bebauung oder die Umsiedlung gefährdeter Quartiere ist rechtlich und emotional hochsensibel. „Wir können nicht einfach tausende Menschen enteignen oder umsiedeln“, erklärt der Verwaltungsrechtler Prof. Dr. Johannes Wichmann von der Universität Trier. „Was fehlt, sind bundesweit einheitliche Vorgaben, wann ein Rückbau rechtlich zulässig und finanziell vertretbar ist.“

Gleichzeitig wächst die politische Debatte um eine Versicherungspflicht gegen Elementarschäden. Während CDU, SPD und Grüne eine verpflichtende Versicherung fordern, lehnt die FDP diese bisher ab. Die Argumentation: Es dürfe keine automatische Kollektivhaftung für Häuser in Risikozonen geben. Doch ohne Versicherungsschutz stehen viele Hausbesitzer im Schadensfall mit leeren Händen da. Die Versicherungswirtschaft zeigt sich offen für eine Pflichtversicherung – sofern diese mit klaren baulichen Auflagen und Rückzugsstrategien in Gefahrenzonen verknüpft wird.

Warnsysteme und Zivilschutz: Die zweite Verteidigungslinie

Beim Katastrophenfall selbst kommt es auf Sekunden an. Die Ahrtal-Flut zeigte 2021 auf tragische Weise, wie träge Warnsysteme in Deutschland sein können. Dabei lag eine präzise Warnung des Europäischen Frühwarnsystems EFAS bereits Tage vorher vor – doch die Informationen erreichten die betroffenen Menschen nicht rechtzeitig oder wurden nicht ernst genommen.

Seither wurden viele Warnsysteme modernisiert: Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) hat das Cell-Broadcast-System DE-Alert eingeführt, das Warnungen direkt auf alle Mobiltelefone in einer Region übermittelt – unabhängig von Apps oder Mobilfunkverträgen. Zusätzlich wird der Ausbau von Sirenen-Netzen vorangetrieben. Dennoch warnen Experten wie Ulrich Cimolino vom Deutschen Feuerwehrverband: „Warnsysteme allein retten keine Leben, wenn Menschen nicht wissen, was sie bei einer Warnung tun sollen. Wir brauchen mehr Katastrophenaufklärung.“

Best-Practice: Wo der Hochwasserschutz funktioniert

Es gibt auch Lichtblicke. Bayern investierte seit 2001 mehr als 1,6 Milliarden Euro in Hochwasserschutz – darunter in technische Maßnahmen wie Rückhaltebecken, aber auch in die Rückverlegung von Deichen. In Ingolstadt beispielsweise wurde durch eine Renaturierung der Donauaue eine Überflutungsfläche von über 150 Hektar geschaffen. Das schützt nicht nur vor Hochwasser, sondern fördert auch die Biodiversität.

Auch kleinere Kommunen zeigen Initiative. Die Gemeinde Rees am Niederrhein setzte früh auf einen partizipativen Ansatz: Bürgerinnen und Bürger wurden eingebunden, Grundstücke freiwillig verkauft und Auenflächen zurückgegeben. Bürgermeister Christoph Gerwers erklärt: „Wenn man den Menschen ehrlich begegnet und zeigt, dass sie langfristig profitieren, wächst die Bereitschaft zur Kooperation.“

Ausblick: Fünf zentrale Forderungen für eine wirksame Hochwasservorsorge

  1. Verbindliche Entsiegelungsziele und Renaturierungsprogramme: Städte müssen Wasserrückhalt wieder möglich machen. Das Schwammstadt-Prinzip darf kein Nischenprojekt bleiben.
  2. Effizientere Mittelverwendung: Der Bund muss die Länder stärker kontrollieren – ungenutzte Mittel sollten automatisch neu verteilt oder zurückgefordert werden.
  3. Rechtlicher Rahmen für Rückbau: Einheitliche Vorgaben und Entschädigungsregeln sind nötig, um gefährdete Bebauungen aufzugeben.
  4. Pflichtversicherung gegen Elementarschäden: Jeder Haushalt sollte gegen Extremwetter geschützt sein – sozial gestaffelt und an Auflagen geknüpft.
  5. Bessere Aufklärung und Warnsysteme: Frühwarnsysteme müssen mit Katastrophenpädagogik verbunden werden. Jeder sollte wissen, wie man im Ernstfall reagiert.

Deutschland steht am Scheideweg

Die Starkregen und Hochwasser der letzten Jahre sind keine Ausreißer, sondern Vorboten eines sich wandelnden Klimas. Und obwohl der Handlungsdruck seit Ahrtal 2021 groß ist, hinken viele Bundesländer bei der Umsetzung konkreter Maßnahmen hinterher. Geld ist vorhanden, Wissen auch – was fehlt, ist oft der politische Wille und die rechtliche Klarheit.

Hochwasserschutz kann nicht allein durch Technik oder Geld gelöst werden. Es braucht ein Umdenken – hin zu einer natürlichen, vorsorgenden Wasserpolitik, die Mensch, Natur und Infrastruktur gleichermaßen schützt. Die nächsten Jahre entscheiden darüber, ob Deutschland tatsächlich lernfähig ist – oder ob wir bei der nächsten Flutkatastrophe erneut auf Aufarbeitung setzen müssen statt auf Vorsorge.

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