
Die Energiewende verändert nicht nur die Art und Weise, wie Strom erzeugt wird, sondern auch, wie er gehandelt, gespeichert und verbraucht wird. Mit dem massiven Ausbau erneuerbarer Energien – insbesondere von Photovoltaik und Windkraft – entstehen immer häufiger Situationen, in denen mehr Strom produziert als benötigt wird. In der Folge kommt es zu einem Phänomen, das bis vor wenigen Jahren undenkbar schien: negative Strompreise.
Was früher als unerwünschte Marktverzerrung galt, eröffnet heute neue Perspektiven. Wenn Strom plötzlich im Überfluss vorhanden ist und sogar mit negativen Preisen gehandelt wird, stellt sich eine entscheidende Frage: Können Verbraucher und Industrie davon profitieren? Der folgende Artikel zeigt, wie sich Stromüberschüsse vom Problem in eine volkswirtschaftliche Chance verwandeln könnten – und was dafür noch fehlt.
Was sind negative Strompreise?
Negative Strompreise bedeuten, dass Stromerzeuger Geld dafür zahlen müssen, damit jemand ihren Strom abnimmt. Dieses scheinbar absurde Szenario ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage auf dem Strommarkt – insbesondere am sogenannten Day-Ahead-Markt, also der Strombörse, auf der Energie für den Folgetag gehandelt wird.
Hintergrund ist das Merit-Order-Prinzip, das die Einspeisung von Strom nach den Grenzkosten regelt. Erneuerbare Energien wie Wind- und Solarstrom haben extrem niedrige bis null Grenzkosten. Sie werden daher stets zuerst eingespeist. Wenn zu viel günstiger Strom zur Verfügung steht und die Nachfrage nicht mithalten kann, sinkt der Preis – im Extremfall unter null. Dann zahlen Anbieter für die Abnahme ihres Stroms.
Ursachen des Stromüberschusses
Die Ursachen für Stromüberschüsse sind vielfältig, aber letztlich eng mit der erfolgreichen Umsetzung der Energiewende verbunden. So produzieren insbesondere Solar- und Windkraftanlagen an windreichen und sonnigen Tagen deutlich mehr Strom, als gerade benötigt wird. Besonders an Feiertagen, Wochenenden oder in der Mittagszeit, wenn die industrielle Nachfrage gering ist, führt dies zu einer regelrechten Stromschwemme.
Zugleich sind viele konventionelle Kraftwerke – insbesondere Kohle- oder Atomkraftwerke – technisch nicht in der Lage, ihre Produktion kurzfristig herunterzufahren. Diese „Must-Run“-Kapazitäten verengen zusätzlich die Flexibilität des Stromsystems. Hinzu kommen noch Fördermodelle wie das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), das Erzeugern fixe Vergütungen garantiert – unabhängig von den aktuellen Marktpreisen. Dadurch lohnt sich die Einspeisung teilweise sogar bei negativen Börsenpreisen.
Aktuelle Situation in Deutschland
Im Frühjahr 2025 wurde in Deutschland ein neuer Rekord bei negativen Strompreisen verzeichnet: Im Mai allein wurden über 110 Stunden mit negativen Preisen gemessen – an mehr als 20 Tagen. In der Spitze fielen die Preise auf bis zu –28 Euro pro Megawattstunde. Diese Werte sind Ausdruck eines Strommarkts, der durch die Energiewende tiefgreifend verändert wird.
Während diese Entwicklung kurzfristig Belastungen für Netzbetreiber und Energieversorger mit sich bringt, sehen viele Expertinnen und Experten darin auch eine große Chance: Wenn der Strom im Überfluss da ist, warum sollte man ihn nicht günstig – oder sogar kostenlos – an Verbraucher weitergeben?
Risiken und Herausforderungen
Gleichwohl bringt der Stromüberschuss auch Herausforderungen mit sich. Stromnetze müssen in jeder Sekunde exakt ausgeglichen sein – Erzeugung und Verbrauch dürfen nicht auseinanderdriften. Negative Preise deuten auf ein Ungleichgewicht hin, das durch aufwendige Eingriffe kompensiert werden muss. Netzbetreiber reagieren mit sogenannten Redispatch-Maßnahmen, bei denen Kraftwerke ab- oder hochgefahren werden, um das Netz zu stabilisieren. Diese Eingriffe verursachen hohe Kosten, die über die Netzentgelte letztlich von den Verbrauchern getragen werden.
Ein weiteres Problem ist die noch unzureichende Ausstattung mit digitaler Messtechnik. Ohne Smart Meter – also intelligente Stromzähler – ist es für Haushalte nicht möglich, gezielt von günstigen Stromphasen zu profitieren. Auch der Mangel an Speichern und steuerbaren Lasten verschärft die Problematik.
Chancen für Verbraucher
Doch gerade hier liegen die Potenziale: Wenn Verbraucher Zugang zu dynamischen Stromtarifen erhalten, können sie ihren Verbrauch an das Angebot anpassen – und Strom dann nutzen, wenn er besonders günstig oder gar negativ bepreist ist.
Ein Beispiel: Ein Haushalt mit Wärmepumpe und Elektroauto kann seine Geräte in Zeiten niedriger Strompreise gezielt laden oder heizen. Waschmaschinen und Trockner lassen sich per App zu den günstigsten Stunden starten. In der Industrie bieten sich noch weitreichendere Möglichkeiten – etwa die Kühlung von Lebensmitteln in Kühlhäusern oder die Steuerung energieintensiver Produktionsprozesse.
Studien zufolge könnten durch flexible Stromnutzung allein im privaten Bereich Einsparpotenziale von mehreren Hundert Euro jährlich realisiert werden. Voraussetzung ist allerdings die passende technische Infrastruktur – allen voran Smart Meter und zeitvariable Tarife.
Fallstudien: Smart-Home-Nutzung in der Praxis
Ein gutes Beispiel für die Nutzung von Stromüberschuss in Haushalten liefert ein Modellprojekt aus Schleswig-Holstein: Dort nahm eine Familie mit einer modernen Wärmepumpe, PV-Anlage und Speicherbatterie an einem Pilotversuch der Energieagentur teil. Die Steuerung der Geräte erfolgt automatisiert über eine zentrale Smart-Home-Plattform. Diese bezieht Live-Daten vom Strommarkt und schaltet stromintensive Geräte wie Waschmaschine, Geschirrspüler und Warmwasserbereitung gezielt dann ein, wenn der Börsenstrompreis besonders niedrig oder negativ ist.
Im Projektzeitraum von einem Jahr konnte die Familie ihren Stromkostenanteil um rund 27 % senken – bei nahezu gleichbleibendem Verbrauchsverhalten. Die zusätzliche Investition in smarte Steuerungstechnik betrug etwa 800 Euro und hatte sich in weniger als drei Jahren amortisiert. Entscheidender Erfolgsfaktor: Die Kombination aus automatisierter Steuerung, Strommarktdaten und speicherfähiger Infrastruktur.
Ein weiteres Beispiel ist ein Mehrfamilienhaus in Leipzig, das über ein lokales Energiemanagementsystem („Home Energy Management System“, HEMS) verfügt. Dort wurden zentrale Verbraucher wie Heizstab, Lüftung, Warmwasserboiler und E-Ladepunkte miteinander vernetzt. Der Energieversorger integriert das Gebäude in eine virtuelle Flexibilitätsplattform. Bei negativen Strompreisen wird automatisiert zusätzliche Wärme erzeugt oder Strom gespeichert. Die Mieter profitieren von konstant niedrigen Nebenkosten – trotz steigender Energiepreise auf dem Markt.
Voraussetzungen für breite Nutzung
Damit diese Chancen flächendeckend genutzt werden können, braucht es ein konsequentes Umdenken in der Energiepolitik und -wirtschaft. Zentrale Voraussetzung ist der Ausbau des Smart-Meter-Netzes. Erst wenn Haushalte und Unternehmen ihren Stromverbrauch in Echtzeit messen und steuern können, lassen sich flexible Tarife und dynamische Verbrauchsstrategien realisieren.
Auch Investitionen in Stromspeicher – sowohl stationär als auch mobil – sind essenziell. Batteriespeicher in Gebäuden oder bidirektional ladbare Elektroautos können überschüssigen Strom aufnehmen und bei Bedarf wieder ins Netz einspeisen. Ebenso wichtig ist die Ausweitung von steuerbaren Verbrauchseinheiten wie Power-to-Heat-Anlagen, die aus Strom Wärme erzeugen.
Auf regulatorischer Ebene braucht es Anreize und rechtliche Rahmenbedingungen, die es Anbietern ermöglichen, flexible Tarife anzubieten. Derzeitige Hemmnisse – etwa durch hohe Netzentgelte in Spitzenzeiten oder unflexible Tarifmodelle – müssen abgebaut werden.
Internationale Vergleiche und Best Practices
Ein Blick ins europäische Ausland zeigt, dass es auch anders geht: In Ländern wie Dänemark, den Niederlanden oder Schweden sind zeitvariable Strompreise längst etabliert. Dort profitieren Haushalte direkt von Marktbewegungen. Auch die Beteiligung von Verbrauchern am Strommarkt – etwa durch virtuelle Kraftwerke oder Peer-to-Peer-Stromhandel – ist weiter fortgeschritten.
In den Niederlanden etwa können Kunden mit Photovoltaik-Anlagen überschüssigen Strom nicht nur einspeisen, sondern auch gezielt verkaufen – an Nachbarn oder Unternehmen. Solche Modelle könnten auch in Deutschland Schule machen und das Stromsystem dezentraler und resilienter gestalten.
Beispiele für dynamische Stromtarife
Obwohl dynamische Stromtarife in Deutschland noch nicht flächendeckend verfügbar sind, gibt es inzwischen mehrere Anbieter, die sich auf flexible Modelle spezialisiert haben. Einer der Vorreiter ist der Anbieter Tibber, der mit einem „Börsenpreis-basierten Tarif“ arbeitet. Kundinnen und Kunden zahlen den tatsächlichen Börsenpreis (zzgl. kleiner Marge) und können per App in Echtzeit sehen, wann der Strom günstig oder teuer ist. Die App gibt Empfehlungen, wann welche Geräte am besten betrieben werden sollten – etwa die Ladung des E-Autos oder der Betrieb eines Heizstabes für Warmwasser.
Ein weiteres Beispiel ist Awattar, ein österreichisches Unternehmen, das auch in Deutschland aktiv ist. Mit dem „Hourly-Tarif“ wird der Strom stundenweise abgerechnet – basierend auf den Preisen der EPEX Spotbörse. Kunden mit Smart Meter können gezielt Stromnutzung verlagern, etwa in die Nachtstunden oder Mittagsphasen mit Solarüberschuss.
Vergleichsportale wie Verivox oder Check24 listen inzwischen auch Tarife mit Stundenpreisen, wobei der Markt sich noch in der Entwicklung befindet. Einige Stadtwerke – z. B. die Stadtwerke München oder die Stadtwerke Flensburg – arbeiten derzeit an eigenen Flexibilitätstarifen für regionale Haushalte mit digitaler Messtechnik. Für Verbraucher mit hohem Stromverbrauch, etwa durch Wärmepumpe oder E-Mobilität, kann sich der Umstieg auf einen dynamischen Tarif schon heute lohnen.
Ausblick
Der Stromüberschuss ist kein rein technisches Problem, sondern Ausdruck einer erfolgreichen Transformation hin zu einem CO₂-freien Energiesystem. Richtig genutzt, kann dieser Überschuss ein Katalysator für sinkende Strompreise, effizientere Netznutzung und einen intelligenteren Umgang mit Energie sein.
Voraussetzung dafür ist eine stärkere Einbindung der Verbraucher, der Ausbau digitaler Infrastruktur und ein flexibler regulatorischer Rahmen. Die Technologie ist vorhanden – jetzt kommt es darauf an, sie intelligent zu nutzen.
Handlungsempfehlungen
Für die Politik:
- Den Smart-Meter-Rollout beschleunigen und bürokratische Hürden abbauen.
- Förderprogramme für Speicher und steuerbare Lasten (z. B. Power-to-Heat) auflegen.
- Regulierungen für dynamische Stromtarife vereinfachen.
- Anreize für flexible Lastverschiebung und Sektorenkopplung schaffen.
Für Verbraucher:
- Dynamische Stromtarife prüfen und Anbieter mit flexiblen Modellen wählen.
- In smarte Haushaltsgeräte, PV-Anlagen, Speicher oder E-Autos investieren.
- Stromverbrauch an günstige Tageszeiten anpassen – auch manuell über Timer oder Apps.
- Langfristig: Teilnahme an virtuellen Kraftwerken oder lokalen Energie-Communities in Erwägung ziehen.
Die Zukunft der Energieversorgung liegt in der Flexibilität. Wer heute in die richtige Technik investiert und regulatorische Weichen richtig stellt, kann von der Überproduktion morgen profitieren – als Bürger, Unternehmen und Gesellschaft insgesamt.